2020: Das verlorene „Wir“

Isolde Charim Kuratorin, Philospohin und Autorin

Kuratorin: Isolde Charim

Philosophin und Autorin

Was sich heute im Vergleich zum auslaufenden 20. Jahrhundert vielleicht am stärksten geändert hat, ist das „verlorene Wir“. Es gibt eine Krise des „Wir“. Theodor W. Adorno schrieb: „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ‚ich‘ sagen.“ Das war durchaus abschätzig gemeint. Ein Begriff wie „Pack“, der interessanterweise in Deutschland wie in den USA (als „Deplorables“) Eingang in die politische Diskussion gefunden hat, ist ein fernes Echo dieser Abschätzigkeit.

Im 21. Jahrhundert gilt: Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie ‚wir‘ sagen. „Uns geht es doch gut“, spricht sich leicht, wenn man aus diesem ‚wir‘ Alleinerziehende ausschließt, die zu fast 40 Prozent Hartz IV beziehen müssen– oder die Hunderttausenden Soloselbstständigen, die mit einem realen Stundenlohn unter fünf Euro und ohne Altersvorsorge zurechtkommen müssen.

Wer ist mit „wir“ gemeint? Und warum sind „wir“ in der Krise?